09.10. Sonntag
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Coburg, Schloß Ehrenburg / 16:30 Uhr

Fischer
Einführungsvortrag / Jens Malte Fischer

„Blicke mir nicht in die Lieder.“
Anmerkungen zu Mahlers Liedschaffen


Mahler war ein Komponist, der nicht nur nebenbei Lieder schrieb, wie Richard Strauss oder Richard Wagner, der aber auch nicht nur Lieder schrieb, wie sein Jugendfreund Hugo Wolf. Obwohl Mahlers Lieder zum Schaffen seiner Zeitgenossen und unmittelbaren Vorgänger Johannes Brahms, Hugo Wolf, Hans Pfitzner und Max Reger eigentümlich querstehen, hat er es dennoch vermocht, sich mit ihrer emotionalen Kraft bei einem breiten Publikum damit fester zu etablieren, als mit seinen Symphonien. Dabei ist durchaus eine Rangfolge der Beliebtheit zu erkennen, die sich von den eminent populären Liedern eines fahrenden Gesellen bis zu den Rückert-Liedern erstreckt.
Quer zu denen der Zeitgenossen stehen Mahlers Lieder sowohl in der kompositorischen Faktur wie auch in der Textwahl. Die Dominanz der Wunderhorn-Texte einerseits, der Lyrik Friedrich Rückerts andererseits (es gibt keinen anderen Liedkomponisten, der in seiner Textauswahl derart ,eingeengt‘ scheint wie Mahler) wirkte bereits damals merkwürdig. Ein zweiter Aspekt der Lieder Mahlers ist die Verschränkung von Alt und Neu. Die Kühnheiten der formalen Disposition, der metrischen Raffinements, auch der harmonischen Gewagtheiten in den Spätwerken wird man in diesen Liedern vergeblich suchen.
Mahler war insgesamt kein Komponist der revolutionären Erweiterung und Überspannung der musikalischen Sprache. Mit einem weithin traditionellen Vokabular formulierte er das Ungewohnte und bisher als unausdrückbar Geltende. Sein berühmter Satz, daß Symphonien schreiben heiße, mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt aufzubauen, wird nur dann in seiner Tragweite voll verständlich, wenn man unter ,vorhandenen‘ eine Unterstreichung markiert. Die Welt seiner Lieder ist beschränkter, ,kleiner‘, überschaubarer als die seiner Symphonien, ganz folgerichtig ist auch die Technik beschränkter, er geht hier keineswegs wie in den Symphonien (etwa seit der Fünften) gelegentlich an den Rand der Möglichkeiten seiner musikalischen Welt, sondern bleibt bescheiden in deren Rahmen. In diesem Rahmen einer gewissen Simplizität des Materials und des Vokabulars aber werden, vor allem in den späteren Liedern, Ausdrucksqualitäten erreicht, die denen der Symphonien nahekommen.
Hans Sachs in Wagners Meistersingern sinnt über Stolzings Meisterlied nach: „Es klang so alt, und war doch so neu, wie Vogelsang im süßen Mai“ – dies Gefühl vermitteln auch Mahlers Lieder. Vordergründig vertraut klingt so manches, was dann doch in der Gewalt des Ausdrucks fremd und verstörend wirkt.
Jens Malte Fischer

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